Die Buchmesse in Leipzig präsentierte sich 2004 als Messe der Rekorde: Über 2.000 Aussteller aus 30 Ländern und über 100.000 Besucher. Doch gefeiert wie ein Popstar wurde nur einer: Der Mangazeichner Akira Toriyama.
Dieser Beitrag erschien ursprünglich am 30.3.2004 im Online-Magazin Morgenwelt.de
Ein Besuch der Leipziger Buchmesse ist eigentlich eine einfache klare Sache: Man betritt die riesige gläserne Eingangshalle und geht dann entweder nach links oder rechts. Nur zwei der insgesamt vier großen Messehallen stehen den Ausstellern zur Verfügung. Damit bleibt das Gelände scheinbar übersichtlich.
Auf den zweiten Blick wird die Sache kompliziert, immerhin sind 44.000 Quadratmeter zu durchlaufen. Und an nahezu jeder Ecke wird vorgelesen. Von 1200 Lesungen in vier Tagen spricht die Messeleitung. Interviews und Signierstunden nicht mitgerechnet.
Schon in der Eingangshalle kann man Sibylle Berg über den Weg laufen. Auf dem „blauen Sofa” des ZDF absolviert sie eines der Interviews, die der Sender im Halbstundentakt veranstaltet. Kaum auf dem Sofa angekommen, fällt der Blick der Autorin überrascht auf den kleinen Stapel ihres neuen Romans „Ende gut”, der am Bühnenrand aufgebaut steht.
„War das bei den anderen auch so?”, fragt Berg die Moderatorin, „die liegen da ja wie Heizdecken.” Ja, das sei bei allen Gästen so, beruhigt man die Schriftstellerin, und schon beginnt das Verkaufsgespräch. Autoren sind in Leipzig als Handelsreisende unterwegs.
Ganz viele Heizdecken hat Sahra Wagenknecht im Angebot. Die PDS-Politikerin brachte erst im letzten August eine Abrechnung mit dem Kapitalismus auf den Markt, reiste dann nach Venezuela und stellt jetzt schon auf dem „SPIEGEL-Forum” die Ergebnisse der Reise in Buchform vor. „Alo Presidente” will uns erklären, warum sich das südamerikanische Land unter der Regierung Chávez auf dem richtigen Reformweg befinde, „während die Regierung Schröder nur von unten nach oben umverteilt”.
Was sie dann als Leseprobe anbietet, erinnert eher an ein flüchtiges Reisetagebuch als an eine politische Analyse. Aber die wird vielleicht im nächsten Werk nachgeliefert, das sich schon in Vorbereitung befindet und wieder den Kapitalismus thematisiert. Die Frau ist fleißig, keine Frage.
Wer nach bekannten Gesichtern Ausschau hält, wird schnell fündig in Leipzig. Wer sich dagegen einfach durch die Hallen treiben lässt, kann schöne Entdeckungen machen. Neben den Großverlagen bietet Leipzig vielen Kleinen ein Forum, so etwa dem Hamburger Martin Graf, Zeichner und Verleger in eigener Sache.
Graf hat sich mit seiner „Edition 8×8” auf witzige Pop-Ups und Bastelbögen spezialisiert, aus denen man sich in Heimarbeit mechanische Spielereien zusammenklebt.
Graf versteht seinen Ein-Mann-Betrieb als Manufaktur. Er gestaltet, druckt und vertreibt seine Ware komplett selbst. Sein Messe-Bestseller ist ein Zauberer, der ein Kaninchen unter dem Zylinder erscheinen und wieder verschwinden lassen kann.
Am Sonntag Nachmittag ist der Zauberer selbst verschwunden, die Doppelbögen zu vier Euro sind ausverkauft. Für geschäftliche Kontakte sei die Frankfurter Messe wichtiger, sagt Graf, in Leipzig hätten gerade mal zwei Buchhändler seinen Stand besucht. Trotzdem werde er im nächsten Jahr wieder dabei sein, denn in Leipzig dürfe direkt verkauft werden. Außerdem gefalle ihm die Atmosphäre der Leipziger Messe.
Ach ja, die Atmosphäre: Helle Hallen, breite Gänge und viele Ruhezonen, die zum Lesen oder Zuhören einladen, sind Leipzigs Stärken. Trotz geschäftigem Treiben scheint eine entspannte Stimmung über der Messe zu liegen. Die Lockerheit zieht viel junges Publikum an, jeder dritte Besucher dürfte keine zwanzig Jahre alt gewesen sein.
Der Lesenachwuchs bevorzugt Halle zwei, die Kinderbücher und einen großen Comicbereich zu bieten hat. Die Messe setzte schon vor Jahren auf den Manga-Trend und hat das Angebot kontinuierlich in diese Richtung ausgebaut. Nicht nur den japanischen Comics, auch der Kultur Japans generell wird großzügig Messefläche zur Verfügung gestellt. So gibt es ein Anime-Kino, einen Teegarten, eine Zone für Go-Spieler und einen Nachwuchswettbewerb für deutsche Mangazeichner.
Mit Akira Toriyama war zudem erstmals ein populärer japanischer Zeichner in Deutschland zu Gast. Im Congress-Center wurde der schüchterne Künstler von Hunderten begeisterter Fans begrüßt, die stehend Beifall klatschten. Die Teilnahme an seinen Signierstunden musste wegen des Andrangs verlost werden. Kein Popstar hätte größeres Interesse auslösen können.
Für seinen deutschen Verlag hat sich die Herausgabe von Toriyamas Serie „Dragon Ball” als echter Glücksgriff erwiesen. Insgesamt aber ist die Branche verunsichert. Nicht alle Comics glänzen mit hohen Auflagen, der Markt für US-Superhelden etwa ist nach kurzer Boomphase in sich zusammengebrochen und fristet heute nur noch ein Nischendasein. Das junge Publikum scheint unberechenbar geworden zu sein, obwohl sich die Comics über so viel Aufmerksamkeit wie nie zuvor freuen können.
Eine der vielen Leseecken auf der Messe
Während bis Ende der 80er Jahre europäische und amerikanische Comics nur Jungen interessierten, finden japanische Mangas auch unter Mädchen ein dankbares Publikum. Die deutschen Comicverlage wurden durch das überraschende Interesse in den 90er Jahren vor der Pleite bewahrt, doch scheint vielen Managern der Markt fremd geblieben zu sein. Sie wissen eigentlich kaum, was das jugendliche Publikum bewegt. Der Niedergang der Musikindustrie lässt grüßen.
In Leipzig hätten die Verleger tiefe Einblicke in die Manga-Szene gewinnen können, wenn sie denn mal das so genannte Cosplay besucht hätten. Die überwiegend weiblichen Cosplayer schneidern sich die Kostüme ihrer Manga-Helden und spielen einzelne Szenen der Comics auf der Bühne nach. Sie tragen Songs aus Anime-Filmen vor und gestalten semiprofessionelle Tanzvorstellungen.
Die Leipziger Messeleitung stellte den Cosplayern einen Saal im Congress-Center zur Verfügung, Organisation und Ablauf der Veranstaltung übernahmen die Fans selbst. Das rund fünfstündige Leipziger Cosplay wollten über sechshundert junge Besucher erleben, mehrheitlich ausgestattet mit digitalen Video- und Fotokameras. Die Ausbeute des Wochenendes geht dieser Tage auf den Homepages der Szene online.
Die Manga-Fans begründen die wohl erste wirklich multimediale Subkultur. Sie bewegen sich in einer eigenen komplexen Zeichenwelt, sprechen einen eigenen Code. Dank des Internets sind sie immer auf dem Laufenden, was Ihresgleichen in Japan, den USA oder sonst wo auf der Welt beschäftigt.
Was die deutschen Verlage ihnen Neues zu bieten haben, kennen die Fans meist schon aus den Kommentaren der Internetforen. Ein solches Forum stellt ihnen unter anderem die Buchmesse ganzjährig zur Verfügung. Viele Fans lernen sogar japanisch, weil sie die Originale verstehen wollen.
Die deutschen Verleger laufen den Aktivitäten dieser Szene hinterher. Sollen sie mehr japanische Ware übersetzen lassen, den deutschen Manga-Nachwuchs aufbauen oder sich vielleicht schon mal auf das Ende des Booms vorbereiten? Noch scheint das keiner so recht zu wissen. Dabei drängt die Zeit.
Mit dem Verlag Tokyopop will das erste japanisch-amerikanische Unternehmen sich hierzulande direkt Marktanteile erobern, anstatt den Deutschen nur Lizenzen anzubieten. Im Herbst soll das erste Programm auf der Frankfurter Buchmesse präsentiert werden. Im Frühjahr 2005 wird man Tokyopop mit Sicherheit auch in Leipzig antreffen. Im besten Fall erschließt die Konkurrenz neue Nischen. Im schlimmsten verschärft sie den Konkurrenzkampf auf einem engen Markt.
Aber wie kommt man zu Autoren, die neue Märkte erschließen? Jörg Bong vom S. Fischer Verlag sinnierte auf einer Podiumsdiskussion, die Verlage müssten wieder einen langen Atem beweisen und den Nachwuchs aufbauen, auch wenn der anfangs keine tausend Exemplare verkaufe. Dabei hatte sich ausgerechnet sein Verlag die Empfehlung einer Unternehmensberatung eingefangen, es dürfe keine Auflagen unter 5.000 Stück mehr geben.
Rund 20 Prozent der Literaturproduktion soll am Markt vorbei produziert werden. Eine Größe, die Wolfgang Nikrandt, Geschäftsführer des Reste-Verwerters Jokers.de, noch für stark untertrieben hält. Laut Nikrandt kommen selbst die Muster, die die Verlage zum Ramsch anbieten, schon auf Paletten in seine Firma.
Der Buchmarkt ist zersplittert, ein allgemeiner Trend schwer auszumachen. Versteckt er sich vielleicht hinter dem gestiegenen Absatz von Hörbüchern? Liegt die Zukunft der Literatur in ihrer multimedialen Verwertung? Ist die japanische Kombination aus Manga und Anime, aus Comic und Trickfilm, ein ermutigendes Beispiel? Die Verlage werden es ausprobieren müssen. An interessiertem Publikum, das zumindest belegt die Leipziger Buchmesse, mangelt es nicht. Und das ist doch schon mal ein hoffnungsvolles Zeichen.