Die Zeichentrickfilme von Winsor McCay
Die Geschichte des Trickfilms wird eines Tages vielleicht als Geschichte der Filmsaurier erzählt. Gerade erst ist Disney in den USA mit „Dinosaur”, einer Computer-Animation aus der Urgeschichte, in die Kinos gekommen (Deutschland-Start Mitte November 2000). Damit steht der Unterhaltungskonzern in einer Tradition, die bereits vor 86 Jahren begann. Damals feierte der Comic-Künstler und Trickfilm-Pionier Winsor McCay mit seiner Saurier-Dame „Gertie” Triumphe an der Kino-, oder besser: an der Varieté-Kasse.
Als McCay (1867 – 1934) im Jahre 1914 mit Gertie die Leinwand eroberte, war er in den USA bereits ein gefeierter Künstler. Er hatte als Werbegrafiker, Karikaturist und Comiczeichner gearbeitet. Seit 1905 galt er mit „Little Nemo” als Star der Sonntagsbeilagen in den US-amerikanischen Tageszeitungen. Nach einer von McCay selbst unter das Publikum gestreuten Legende, soll ihn sein Sohn Robert zum Trickfilm gebracht haben: Der kleine Robert, so McCays Geschichte, habe um das Jahr 1909 ein Daumenkino mit nach Hause gebracht und somit den Vater angeregt, sich mit bewegten Bildern zu beschäftigen.
So schön die Geschichte auch klingt: Inspiriert wurde McCay in Wirklichkeit durch die frühen Trickfilme von James Stuart Blackton, der im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts mit Animationen experimentierte. McCay kannte auch die Filme des Franzosen Emile Cohl, der zeitgleich an derartigen Streifen arbeitete und diese spätestens im Jahr 1908 auch in den USA aufführen ließ. Beide Zeichner waren zwar Pioniere der Technik, aber nur schwache Künstler.
Winsor McCay, der immer auf der Suche nach neuen Ausdrucksmitteln war, erkannte schnell, welche Möglichkeiten der Zeichentrickfilm bot. Im Herbst 1910 begann er mit der Arbeit an seinem ersten Film. Beseelt von dem Wunsch, seinen Comic-Helden „Little Nemo” einmal in Bewegung zu sehen, zeichnete er rund 4.000 Einzelbilder innerhalb eines Monats – und dies zusätzlich zur regulären Zeitungsarbeit! Ergänzt wurde der eigentliche Trickfilm noch durch reale Bilder, die McCay beim Zeichnen zeigen: Sobald er die Figuren aufs Papier gebracht hat, beginnen sie zu leben – eine Idee, die McCay bei Blackton gesehen hatte. James Stuart Blackton war dann auch der Regisseur dieses ersten Films von zehn Minuten Länge. Die Bilder des Filmstreifens wurden übrigens einzeln per Hand koloriert, was dem Publikum einen frühen „Farbfilm” bescherte. Noch handelte es sich allerdings um eine reine Bewegungs-Studie ohne echte Handlung. Immerhin: Der Film-Virus hatte McCay infiziert und ließ ihn fortan nicht mehr los.
Im Jahre 1912 präsentierte er seinen nächsten, fünfminütigen Film unter dem Titel: „How A Mosquito Operates”. Die Handlung ist einem selbst gezeichneten Comic aus dem Jahre 1909 entnommen: Ein Moskito landet auf dem Gesicht eines Schlafenden und beginnt, Blut zu saugen. Das Insekt wird im Verlaufe der Handlung immer dicker, kann wegen seines kugeligen Bauches nicht mehr fliegen und platzt schließlich. Im Kino war der Moskito-Film ein großer Erfolg, nicht zuletzt deshalb, weil das Insekt stark „vermenschlicht” auftrat: Es schwenkte seinen Zylinder in Richtung des Publikums und vollführte allerlei Turnübungen auf der Nase des Schläfers.
Ein halbes Jahr lang absolvierte McCay eine regelrechte Tournee mit seinem Film, während er gleichzeitig – zunehmend lustlos – seine regulären Comics und Karikaturen produzieren musste. In seinen Gedanken weilte McCay schon bei seinem nächsten Film, der als sein Hauptwerk in die Filmgeschichte eingehen sollte: „Gertie the Dinosaur”. Darin präsentiert uns der Zeichner eine Saurier-Dame, die einen See austrinkt, ein Mammut mit Steinen bewirft und für ihren Schöpfer tanzt. „Gertie” war im wahrsten Sinne des Wortes ein multimediales Ereignis: McCay stand persönlich vor der Leinwand, sprach zu der Saurierdame, warf seiner Trickfigur Futter zu, und es schien sogar, als ob er gegen Ende der Show auf ihrem Rücken davonreite. Zwölf Minuten dauerte dieser Kinohit des Jahres 1914.
Die Arbeiten an „Gertie” hatten im Sommer 1913 begonnen. McCay hatte dieses Mal einen Assistenten engagiert, weil auf jedem Blatt der komplette Hintergrund mit Felsen und See gezeichnet werden musste. Obwohl der Hintergrund sorgfältig durchgepaust wurde, vibrierten die Linien im fertigen Film – ein bewusst eingesetzter Effekt, der die ganze Szene lebendiger erscheinen ließ. Um den Bewegungsfluss kontrollieren zu können, bediente sich der Zeichner eines großen Holzrades, in das die Bilder wie in einem Daumenkino eingespannt werden konnten. Zum Einsatz kam auch ein zweites vergleichbares Gerät, das sogenannte „Mutoscope”, das schon im 19. Jahrhundert auf Jahrmärkten zum Einsatz kam. Im Mutoscope liefen die Einzelbilder auf Karten durch einen Schacht; die Bewegungen konnte man durch eine kleine Linse betrachten.
Mit „Gertie” erreichte McCay zweifellos die damalige Grenze des technisch Machbaren. Bisher hatte er darauf bestanden, seine Arbeit weitestgehend alleine auszuführen. Wollte er weiter Filme machen, wäre dies nur durch den Aufbau eines Studios möglich gewesen. Das Problem: Winsor McCay war in erster Linie Künstler, der im Medium Film seine Fähigkeiten erproben wollte. Der geschäftliche Erfolg interessierte ihn erst in zweiter Linie. An eine Laufbahn als Filmproduzent dachte er schon gar nicht. Seine weiteren Filme entstanden deshalb auch nur sporadisch und folgten eher persönlichen, denn kommerziellen Interessen. Es waren in erster Linie künstlerische Experimente.
Eine Handvoll dieser Arbeiten sind überliefert, viele davon allerdings nur in Fragmenten. Nur vier längere Filme sind komplett erhalten geblieben: „The Sinking of the Lusitania” aus dem Jahre 1918 beschreibt den Untergang eines Passagierdampfers, den die Deutschen im Jahre 1915, während des Ersten Weltkrieges, versenkten. 1200 Menschen kamen dabei ums Leben. Der Trickfilm, eine Art frühe „Titanic”-Variante, ist um ein geradezu dokumentarisches Bild des Geschehens bemüht. Für zehnminütige Schiffs-Szenen wurden mit der Hilfe von Assistenten 25.000 Zeichnungen, teils auf Papier, teils auf Folien angefertigt. Eine technische Herausforderung stellte die Gestaltung von Meereswellen dar. Ursprünglich hatte man gehofft, deren Bewegungen auf 16 sich wiederholende Bilder beschränken zu können. Ergebnis des Versuchs: Die ersten 750 Folien mussten weggeworfen werden.
Per Folie entstanden auch die drei letzten großen Werke „Bug Vaudeville”, „The Pet” und „The Flying House”, die alle im Jahr 1921 vollendet wurden. In ihnen, die jeweils 13 bis 16 Minuten lang waren, greift McCay seine eigenen Comics als Vorlage auf. In „Bug Vaudeville” lässt er Käfer und Spinnen über eine Varieté-Bühne tanzen. In „The Pet” wächst ein niedliches Hundebaby zu einem riesigen Monster heran, das ganze Häuser verschlingt. „The Flying House” schließlich, entstand als Co-Produktion von Vater Winsor und Sohn Robert McCay. In diesem Film verpasst ein Ehepaar seinem Wohnhaus einen Propeller und fliegt um die Welt. Die Reise führt die beiden sogar in den Weltraum.
Zwar wird in der Literatur noch über weitere Projekte McCays aus den 20er Jahren berichtet, doch diese Arbeiten wurden offenbar nicht mehr realisiert. Der Zeichner hatte zu diesem Zeitpunkt bereits das 50. Lebensjahr überschritten. Er arbeitete immer noch hauptberuflich als Karikaturist. Für zusätzliche, nebenbei entstehende Filmprojekte reichten seine Kräfte nicht mehr aus. Sein Film-Ruhm verblasste erstaunlich schnell. Seine frühen Trickfilme wurden von den ersten Studioproduktionen technisch übertroffen: In den 20er Jahren galt „Felix the Cat” als zeitgemäß, in den 30ern betrat Walt Disney mit den ersten „Mickey Mouse”-Streifen die Bühne.
Winsor McCay ist dank seiner Schöpfung „Little Nemo” den Comic-Fans in aller Welt bis heute ein Begriff. An den Film-Pionier McCay erinnerten sich dagegen über lange Zeit hinweg nur noch Insider des Filmgeschäfts. Den endgültigen Durchbruch des Zeichentrickfilms hat Winsor McCay nicht mehr erlebt: Er starb am 26. Juli 1934. In diesem Jahr begann Walt Disney, am ersten Zeichentrickabenteuer in Spielfilmlänge zu arbeiten: „Snow White and the Seven Dwarves” (Schneewittchen und die sieben Zwerge), uraufgeführt im Dezember 1937.
Literaturtipps:
John Canemaker: Winsor McCay, His Life and Art, New York, 1987
Rolf Giesen: Das große Buch vom Zeichenfilm, Berlin 1982
Richard Marschall: America´s Great Comic-Strip Artists, New York 1997