Zur Geschichte der frühen Comics
Die historischen Wurzeln der Comic-Kultur werden häufig und gerne in der europäischen Bildergeschichte gesucht. Deutsche Comic-Historiker vergessen dabei auch nicht, auf Wilhelm Busch oder auf die „Fliegenden Blätter” zu verweisen. Letztlich aber muss man zugeben, dass der Comic eine rein amerikanische Erfindung ist.
Natürlich haben die Bildergeschichten aus der alten Welt die Zeichner und Verleger in den Vereinigten Staaten inspiriert. Nichtsdestoweniger ist die Begrenztheit der alten Bildergeschichte deutlich erkennbar – eine Grenze, die erst unter den Bedingungen des amerikanischen Zeitungsmarktes überschritten wurde.
Die Bildergeschichte der europäischen Humoristen und Karikaturisten war meist mit begleitenden Unterzeilen versehen, die nicht selten als Reime formuliert wurden. Im Comic dagegen spielt die Sprechblase eine entscheidende Rolle, weil auf diese Weise Dialoge viel lebendiger in die Handlung eingebettet werden können. Diese Technik hat – soweit heute bekannt – Richard F. Outcault eingeführt. Outcault (1863 – 1928) arbeitete als Illustrator und Cartoonist und schuf im Jahr 1895 die Figur „Yellow Kid”. Der kleine kahlköpfige Junge lief barfuß und nur mit einem langen gelben Kittel bekleidet, durch Outcaults Illustrationen. Schon nach kurzer Zeit war das sonderbare Kerlchen zu Outcaults Markenzeichen geworden.
So ganz nebenbei und anfangs fast unmerklich, begann der Zeichner, in seine Bilder die wörtliche Rede einzubauen: Mal erschien der Text wie aufgedruckt auf dem Kittel des kleinen Yellow Kid, mal war es eine Frau im Hintergrund, die das von ihr Gesagte als Schild hochhielt. Dann quollen den Figuren die Sätze als kleine Ballons aus dem Mund – die Sprechblase war geboren!
Anklicken: Zeitungsseite „Yellow Kid”
Diese Erfindung blieb zunächst unbemerkt, doch „Yellow Kid” wurde ein Star, um den sich die Zeitungspublizisten Joseph Pulitzer und William Randolph Hearst erbittert stritten.
Beide Großverleger suchten Attraktionen für ihre zahlreichen Zeitungen. Cartoons und später die Comics erschienen als bunte Wochenendbeilagen, die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts in allen Bevölkerungsschichten steigender Beliebtheit erfreuten.
Darüber hinaus ist die Entstehung der Comics eng verknüpft mit der Technikgeschichte: Mitte des 19. Jahrhunderts waren die ersten Rotationsdruckmaschinen entwickelt worden, die bis zu 12.000 zugeschnittene Bogen pro Stunde drucken konnten. Doch erst im Jahre 1866 machte der Amerikaner William Bullock die Zeitungsproduktion so richtig billig, weil seine Maschine die Bahnen erst nach dem Bedrucken schnitt und faltete.
Als dann noch Mitte der 1890er Jahre der Farbdruck perfektioniert wurde – „Yellow Kid” soll die erste Figur in echtem sattem Gelb gewesen sein –, stieg die Popularität der humoristischen Wochenendbeilagen explosionsartig.
Das Werben der Verleger um die besten Zeichner begann. Einer der talentiertesten Künstler, die durch den Comic zu Ruhm gelangten, war zweifellos Winsor McCay (1869 – 1934). McCay war ein Multitalent: Er arbeitete als Karikaturist, Werbegrafiker, Schnellzeichner auf Varietébühnen und Zeichentrickfilmer (einen Artikel dazu gibt es hier).
Als Comic-Künstler erkannte McCay als einer der ersten, welches Potenzial in Outcaults Sprechblasen steckte. Nach einigen kurzlebigen Serien schuf McCay 1904 die „Dreams of the Rarebit Fiend”, die gezeichneten Albträume von Menschen, die zu viel Käsetoast gegessen hatten. Auf einer ganzen großen Zeitungsseite durfte der Zeichner skurrilen Träumen freien Lauf lassen, die jeweils im letzten Bild mit dem Erwachen des Träumers endeten.
Anklicken: Zeitungsseite „Dreams of the Rarebit Fiend”
Dieses Prinzip variierte er ab dem Jahre 1905 in seiner zweiten Serie „Little Nemo in Slumberland”. Mit „Little Nemo” setzte sich McCay selbst ein Denkmal, dessen künstlerische Kraft den Betrachter auch einhundert Jahre später noch in seinen Bann zieht.
Erzählt wird die Geschichte eines kleinen Jungen, der jede Nacht von Slumberland träumt. In diesem Reich der Träume herrscht König Morpheus, der König des Schlafes, der Nemo in den Palast bittet als Spielkameraden für seine Tochter. Die Reise dorthin und die Abenteuer mit der Prinzessin füllten als Fortsetzungsgeschichten zehn Jahre lang die Sonntagsbeilagen.
Anklicken: Zeitungsseite „Little Nemo in Slumberland”
McCays Seiten waren sowohl zeichnerisch als auch erzählerisch sehr anspruchsvoll und nahmen sogar das konservative Bürgertum für sich ein, obwohl letzteres die Comics eigentlich als eine „niedere” Form der Unterhaltung betrachtete.
Der große Erfolg brachte es mit sich, dass „Little Nemo” als Brettspiel, als Puppe und in zahllosen anderen Produkten vermarktet wurde – ein erstes Beispiel für eine gelungene Marketingstrategie! Sogar ein „Little Nemo”-Musical wurde am Broadway ein – durchaus vorhersehbarer – Erfolg.
Sein Star-Zeichner durfte sich wöchentlich auf der ganzen Zeitungsseite „austoben” und spielte ausgiebig mit atemberaubenden Perspektiven und einer Fülle surrealer Ideen. Besonders gern erweckte er tote Gegenstände zum Leben, ließ Großes schrumpfen oder Kleines ins Unermessliche wachsen.
Anklicken: Zeitungsseite „Little Nemo in Slumberland”
Er brach die Regeln des Genre, bevor diese überhaupt erst aufgestellt wurden. Einmal gar, aßen seine hungrigen Hauptdarsteller ihre eigene Bilder auf, weil der Zeichner ihnen kein Essen zeichnen wollte…
Da der Bedarf an guten Comiczeichnern im eigenen Lande nicht zu decken war, reisten die US-Verleger auf der Suche nach Talenten bis nach Europa. So bekam unter anderem der in den USA geborene, aber in Deutschland aufgewachsene Karikaturist Lyonel Feininger (1871-1956) seine Chance. Feininger wurde bekanntlich in der zweiten Hälfte seines Lebens als kubistischer Maler und Lehrer am Bauhaus berühmt.
Seine frühen Jahre als ein nicht weniger beliebter Karikaturist wurden vom „seriösen” Kunstbetrieb später lange Zeit verleugnet. Dabei muss sich Feininger für sein Frühwerk nicht schämen: Er entwickelte im Jahre 1906 „The Kin-der-Kids”, eine bunt zusammengewürfelte Abenteurertruppe, die mit einer Badewanne als Schiff die Weltmeere durchpflügt, immer verfolgt von Tante Jimjam, die den Helden zwanghaft Lebertran verabreichen will.
Anklicken: Zeitungsseite: Feininger präsentiert seine „Kin-der-Kids”
Aus Feiningers Feder stammt auch „Wee Willie Winkies World”. In dieser Serie lässt der Künstler einen kleinen Jungen durch die Natur spazieren. In seiner Fantasie formen sich Häuser, Bäume und Wolken zu Figuren. In diesen Zeichnungen finden sich bereits viele Motive, die Feininger auch später in seinen Aquarellen, Holzschnitten und Gemälden verwandte.
Seine Comicseiten waren durchwirkt von leiser Poesie, die sich im lärmenden Amerika leider schlecht verkaufte. Seine beiden Comicserien wurden schon bald wieder eingestellt. Trotzdem ist es bezeichnend, dass Feiningers Comics überhaupt nur in den USA publiziert wurden. Das überraschte deutsche Publikum entdeckte den Maler als Comiczeichner erst in den 70er Jahren.
Ein weiterer Zeichner, dessen Kunst dem Massengeschmack seiner Zeit weit voraus war, hieß George Herriman (1880 – 1944). Herriman hatte das große Glück, im Verleger Hearst seinen größten Fan zu finden. Der Zeitungszar förderte Herrimans Serie „Krazy Kat”, obwohl diese eigentlich kaum eine Zeitung haben wollte. Die Geschichten handeln vom bösen Mäuserich Ignatz, der Katze Krazy und dem Hund Pupp in der Rolle eines Polizisten. Pupp liebt Krazy heimlich, diese wiederum ist in Ignatz verknallt, doch der wirft ihr nur ständig Ziegelsteine an den Kopf. Rund dreißig Jahre lang variierte Herriman das Thema der unerhörten Liebe mit einer geradezu philosophischen Tiefe.
Gleichzeitig experimentierte er mit höchst unterschiedlichen erzählerischen Techniken und künstlerischen Effekten. Vom Publikum ignoriert, von den Kollegen bewundert, hat Herriman ein zeitlos modernes Werk hinterlassen.
Anklicken: Zeitungsseite „Krazy Kat”
Es würde den Rahmen eines „Morgenwelt”-Artikels sprengen, an dieser Stelle noch weitere Künstler vorzustellen.
Die Beispiele haben aber hoffentlich anschaulich werden lassen, welch künstlerisch vielschichtige, fantasievolle Welt sich einst im frühen Massenmedium Tageszeitung entfalten konnte. Vielleicht entstand sie gerade aufgrund der Unschlüssigkeit der damaligen Verleger und Redakteure, die dem neuen Medium zögernd gegenüberstanden und den Künstlern deshalb freie Hand ließen. Eine derartige Großzügigkeit ist dem heutigen Verlagswesen leider fremd.
Im Verlaufe der Jahrzehnte haben die Comics – mit speziellen Magazinen und Heftreihen – ihre eigene Plattform gefunden. Aus den Tageszeitungen sind sie fast völlig verschwunden. Unter dem Druck, möglichst viele Serien auf engem Raum unterzubringen, sind die einzelnen Folgen auf drei, maximal vier kleine Bilder zusammengeschrumpft. Nur wenige gute Zeichner, wie etwa Charles M. Schulz (1922 – 2000) mit seinen „Peanuts”, konnten unter solch beschränkten Bedingungen noch eine ganze Welt entstehen lassen.
In den Vereinigten Staaten sind die Comics in den letzten Jahren insgesamt stark unter Druck geraten. Das junge Publikum scheint sich vom Comic zugunsten der neuen Medien abzuwenden. Erfolgreich existieren können nur noch Serien, die unterschiedliche Medien miteinander verzahnen. Die japanische Serie „Pokémon”, die zugleich als Comic, Trickfilm und Computerspiel antritt, ist dafür ein gutes Beispiel. Der Comic, so sagen nicht wenige Experten voraus, mutiert als animierte Erzählung ins Internet hinein. Aber das ist eine andere Geschichte…
(Erstveröffentlichung im Online-Magazin „Morgenwelt”, ca. 2004)